
Meine Wahrheit, deine Wahrheit
George Orwell fand es 1936 « beängstigender als alle Bomben », dass schon damals kaum noch jemand ein ernsthaftes Interesse daran zu haben schien, die Geschichte als sich auf die « Wahrheit », auf « Fakten » berufende zu erzählen. Er gab zu, dass es immer schwerer würde, die Wahrheit festzumachen, in einer Zeit, in der die jeweils regierende Macht die Archive und Quellen für eine wahrheitssuchende Geschichtsschreibung innehatte : Wie könnte Franco die Wahrheit über den spanischen Bürgerkrieg erzählen, wie die Nazis die über den Zweiten Weltkrieg? Und wenn ich ihn weiterdenke: wie sehr verschiebt sich die Wahrheit auch bei den
« Guten » immer mehr: dass die AfD Weiten entfernt von jeglicher Wahrheit ist, ist evident, aber wie kann beispielsweise Selenskyj
« die Wahrheit » erzählen und nichts als die Wahrheit, wenn gleichzeitig sein Land, seine Leute, sein Leben zur Debatte stehen? Kann er das? Sind Wahrheit und das nackte Überleben kompatibel? Und stimmt es nicht, was Orwell beklagt: dass heute niemand mehr daran zu glauben scheint, das ginge überhaupt, es gäbe eine zu erzählende Wahrheit und sei es nur als Ideal, dem man sich annähern könnte, müsste? Ich zitiere hier nicht Trump, aber der Gedanke drängt sich natürlich auf. Denn mit Wahrheit hat seine Geschichte und Geschichtsschreibung einfach mal nichts mehr zu tun. (Und damit wir uns richtig verstehen, ich bin und bleibe überzeugt, dass gerade Selenskyj eben diesem Ideal einer Wahrheit weiter verpflichtet bleibt.)
Aber wo geht sie also hin, die Wahrheit, ist sie noch da? Wie kann es sein, dass wir so selten von ihr hören? Wie kann es sein, dass wir nicht bei jedem trumpschen Wort brüllen und protestieren: « aber das ist nicht die Wahrheit! Das darf er nicht sagen. »
Inzwischen darf er es wohl.
Kaum einer sucht noch ihr, das Ideal scheint fürchterlich altmodisch, unsichtbar, tabu.
Und inwiefern setzt sich diese Zersetzung der Wahrheit in unser Privatleben fort? Wer hat Recht in diesen Streitigkeiten, die ungeahnte Proportionen annehmen können, in denen einer dem anderen vorwirft, er sei so und nicht anders und würde dies sagen, jenes denken? Wo ist da die Wahrheit? Und wie lange suchen wir sie, als Ideal, wenn wir Recht haben wollen, um jeden Preis. Gewinnen gegen den andern, selbst wenn man ihn liebt?
Die « vorm Aussterben bedrohte » Wahrheit nach Orwell, sie macht Sorgen. Sie macht Angst. Sie verortet Beziehungen neu. Sie amputiert uns eines Wertes, der Kompass war. Sie lässt uns orientierungslos.